„Der Leser wird zum Teilautor“

Comic-Reportagen werden immer beliebter. Vice ist für seine journalistischen Comics bekannt, Al Jazeera hat zuletzt einen 46-seitigen Comic zum Thema Big Data veröffentlicht und der Berliner Tagesspiegel eine interaktive Comic-Reportage online gestellt. Doch wie journalistisch können Comics eigentlich sein? Ein Gespräch mit der Autorin der Comic-Reportage „Berlins Favela- Cuvrybrache in Kreuzberg“ Julia Severiens.

Frau Severiens, der Begriff „Comic-Journalismus“ ist zurzeit in aller Munde. Aber was verbirgt sich eigentlich dahinter?

Unter „Comic-Journalismus“ versteht man journalistische Formen, meist Reportagen, die sich dem Medium Comic bedienen. Die Reportagen leben von den besonderen Ausdrucksmöglichkeiten und Erzählweisen des Comics, ihre Inhalte beziehen sich auf non-fiktionale Ereignisse und Erlebnisse. Themen, die in Comics gut dargestellt werden können, sind zum Beispiel gesellschaftspolitische Angelegenheiten, Kriege, Reiseberichte oder auch Alltagsthemen unter neuem Blickwinkel. Als Begründer des „comic journalism“ gilt übrigens der amerikanische Comicjournalist Joe Sacco. Er hatte als einer der ersten die Idee, eine Reportage über den israelisch-palästinensischen Nahostkonflikt in Comicform zu erstellen und machte das Genre mit seinem Werk „Palestine“ populär.

Comics sind keine neue Erfindung. Warum gehen Comic-Reportagen aktuell so durch die Decke?

Ich schätze, weil Comics gut zu unserem bildorientierten Rezeptionsverhalten passen. Durch die Kombination von Bild und Text können komplexe Sachverhalte in einem oder nur wenigen Bildern vermittelt werden. Informationen werden so anschaulich und leicht zugänglich. Das spielt bei komplexen Themen wie zum Beispiel dem Nahostkonflikt eine Rolle. Ein weiterer Punkt: Neben der Vermittlung von Inhalten geht es zunehmend darum, ein Erlebnis zu schaffen. In Comic-Reportagen werden Themen in eine Narration eingebunden und der Leser wird zum Teilautor der Geschichte.

Wie das?

Das Lesen eines Comics ist ein aktiver Prozess, da die Leerstellen zwischen den einzelnen Panels (Anm. d. Red.: Einzelbild in einer Comic-Sequenz) interpretiert werden und die eigentliche Geschichte erst im Kopf des Lesers entsteht. Die Identifikation und Interpretation der Themen ist direkter und intensiver als über Medien, die ein eher passives Rezeptionsverhalten verlangen. Außerdem wird durch das Mittel der Stilisierung und der Abstrahierung das Gezeigte mehrdeutig und vielschichtig. Bestimmte Dinge können dadurch indirekt angesprochen werden. Durch Gestaltungselemente wie zum Beispiel die Form der Panels, die Art der Zeichnung, Bildausschnitt und Perspektive hat der Comic eine ästhetische Wirkung auf den Leser. Gefühle und Atmosphäre, die ebenfalls Teil einer gesellschaftlichen Wirklichkeit sind, können so vermittelt werden ohne sie mit Worten zu beschreiben.

Ein häufiger Vorwurf lautet, dass Comics sehr subjektiv sind. Wie journalistisch können Comics wirklich sein?

Der vermeintliche Vorwurf der Subjektivität, kann auch als Vorteil für den Comic verstanden werden: Dieser suggeriert keine Objektivität, sondern macht seine Subjektivität offensichtlich und regt somit den Leser an, kritisch mit dem Dargestellten umzugehen. Abgesehen davon gibt es ja auch journalistische Formen, die subjektiv sein können. Zum Beispiel der Kommentar, die Glosse, die Karikatur und die Reportage. Im Gegensatz zur rein nachrichtlichen Meldung, ist die Reportage eine betont subjektive journalistische Form, da sie von den Erlebnissen des Autors lebt. Wichtigstes Kriterium ist die Glaubwürdigkeit und damit die Authentizität des Autorens. Aus diesem Grunde ist es unabdingbar, dass der Journalist selbst Augenzeuge des Geschehens ist und nicht nur vom Schreibtisch aus recherchiert.

Für den Berliner Tagesspiegel haben Sie zuletzt einen interaktiven Comic entwickelt. In welche Richtung geht der Comic-Journalismus aktuell? Welche Trends sehen Sie in Zukunft für die Comic-Reportage?

Allgemein sehe ich einen Trend im Journalismus zu multimedialen Reportagen. Da unser Mediennutzungsverhalten zunehmend digital wird, sehe ich Potential in der digitalen Form des Comics. Durch Multimedialität kann der Comic erweitert werden durch Sound sowie Animation. Dadurch wird ein anderes Leseerlebnis geschaffen. Darüber hinaus kann der Leser durch Interaktionsmöglichkeiten stärker involviert werden oder auch als Autor agieren.

Über die Person

Julia Severiens arbeitet als Designerin und Illustratorin. Während ihres Studiums an der Köln International School of Design (KISD) setzte sich die Wahlkölnerin wissenschaftlich mit Comic-Reportagen auseinander und hat im Berliner Tagesspiegel unter anderem die interaktive Comic-Reportage „Berlins Favela – Cuvrybrache in Kreuzberg“ publiziert.

Über den Autor

Julia Jansen

Fotografen buchen, Reportagen schreiben, Beiträge mit den Kunden abstimmen und nebenbei noch die Kollegen an den Redaktionsschluss erinnern – Julia kümmert sich darum, dass aus Magazinkonzepten echte Hefte werden. Ihr liebster Moment während der Produktion ist die Recherche, wenn sie wie eine Goldgräberin nach der besten Geschichte forschen kann.

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