Wenn die Uhren anders gehen

Beim Thema Digitalisierung dreht man in der Kommunikation gern durch. Die hochoptimistische Ankündigungs-PR hat mit der Realität oft nur wenig zu tun. Die Lernkurve ist flach.

Im Mai 2002 einigte sich die damalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt mit den Spitzenorganisationen der Branche auf ein Vorgehen zum Ausbau der Telematik im Gesundheitswesen. Es war die Geburtsstunde der elektronischen Gesundheitskarte. 700 Millionen Euro sollten investiert werden, damit ab dem 1. Januar 2006 70 Millionen Versicherte mit der Karte ausgestattet würden. Schmidt nannte es einen „Meilenstein zu mehr Qualität, Effizienz und Transparenz im Gesundheitswesen“.
16 Jahre und fast zwei Milliarden investierte Euro später ist so gut wie nichts passiert. Die elektronische Gesundheitskarte, 2014 eingeführt, ist laut AOK „nach wie vor nicht viel mehr als ein Mitgliedsausweis“. Und der aktuelle Gesundheitsminister muss immer wieder Spekulationen zurückweisen, nach denen das Projekt bald komplett beerdigt wird.

Wieder einmal darf sich Roy Amara bestätigt fühlen: „Wir neigen dazu, die Auswirkungen einer Technologie kurzfristig zu überschätzen – und langfristig zu unterschätzen“, so das berühmte Diktum des US-Zukunftsforschers. Unsere Neigung hat leider auch Auswirkungen auf die Kommunikation über neue Technologien, insbesondere über die Digitalisierung. In die Falle tappen nicht nur profilierungsorientierte Politiker, sondern auch Unternehmen. Im Bestreben, sich Shareholdern, Kunden und Mitarbeitern gegenüber als innovative Vorreiter zu positionieren, gehen sie immer wieder einem Hype auf den Leim, der zu deutlich überzogenen Ankündigungen führt. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, wann sie von der Realität eingeholt werden wie Ulla Schmidt.

Die visionären Ankündigungen, wie fundamental Digitalisierung, Big Data oder künstliche Intelligenz alles verändern werden, ziehen sich durch alle Branchen. Mobilität, Handel, Banking, Gesundheit – kein Stein bleibt auf dem anderen. So etwa bei der „Mission, den Krebs auszurotten“ mit dem Computersystem Watson von IBM. Fünf Jahre nach Start diverser Pilotprogramme ist es still geworden um den Superrechner, zahlreiche Forschungsprojekte sind gestoppt. Der Informatiker Rodney Brooks, ehemals Direktor des Computer Science and Artificial Intelligence Laboratory am Massachusetts Institute of Technology, der selbst zu intelligenten Robotern forscht, beobachtet über viele Branchen hinweg „irreführende Werbebotschaften über KI-Produkte. Das könnte ihnen in nicht allzu ferner Zeit empfindlich schaden.“ Denn wer ankündigt und nicht liefert, wird abgestraft.

Im Fall der Digitalisierung ist die Gefahr besonders groß. Gründe dafür gibt es viele, unter anderem eine schleppende Gesetzgebung oder ungeklärte Datenschutzfragen, die verhindern oder verschleppen, dass Innovationen eingeführt werden. Beim Thema Big Data liegen sie unter anderem in noch längst nicht ausgereiften Algorithmen. Konsequenz: Bis auf die Werbebranche (Google, Facebook) finden sich bislang so gut wie keine Beispiele, wo mit Big Data Geld verdient wird. Gern übersehen wird auch, dass Digitalisierungs-Projekte oft nach dem Motto „trial and error“ verfahren. Ungeachtet des möglichen oder wahrscheinlichen Scheiterns wird trotzdem visionär kommuniziert. Ein weiterer Grund findet sich im menschlichen Verhalten: Nicht alles, was technologisch möglich ist, wird auch sofort und umfassend angenommen. Bestes Beispiel: Online Banking. Etwa 20 Jahre nach Einführung erledigen etwa 50 Prozent der Deutschen ihre täglichen Finanzgeschäfte online. Die andere Hälfte aber eben nicht. Hinzu kommt, dass sich die technologische Entwicklung nicht selten selbst überholt. 2002, als erstmals über die elektronische Gesundheitskarte gesprochen wurde, gab es noch keine Smartphones. Heute fragen Kritiker, warum man die Daten auf eine Karte speichere statt in einer App.

Die Beispiele sollten Kommunikationsverantwortliche sensibilisieren. Die Fallhöhe ist schon intern groß, wenn man dank Digitalisierung von fehlerfreien Prozessen und modernen Arbeitswelten erzählt, aber nicht mal ein ruckelfreies WLAN bereitstellen kann. Und sie ist in der externen Kommunikation noch größer in einer Welt, in der Unternehmen immer weniger Zeit gegeben wird, um nach Ankündigungen auch zu liefern.

Der Artikel erschien zuletzt im Pressesprecher-Magazin 6/18.

Über den Autor

Lutz Zimmermann

Vom kleinen Dachstudio ins Großraumbüro in Ehrenfeld – seit Lutz die Agentur 2011 gegründet hat, ist aus einem Zwei-Mann-Unternehmen eine 13-köpfige Agentur geworden. Was sich in all der Zeit nicht geändert hat, ist Lutz‘ Liebe für flache Hierarchien und griffige Überschriften. Und wenn der 1. FC Köln nicht gerade verloren hat, ist er jederzeit für einen Plausch über Sport zu haben.

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