„Wer die Chancen nicht sieht, muss blind sein“

Mit dem Versicherungskonzern Allianz verbindet man nicht unbedingt das Thema Social Media. Doch gerade die Münchner haben sich in dieser Branche zum Vorzeigeunternehmen in Sachen Web 2.0 entwickelt. Mit Michael Wegscheider, Projektleiter Enterprise 2.0 bei der Allianz, sprachen wir über das Allianz-Social-Network (ASN), die größten Herausforderungen bei der Einführung der Plattform und die Auswirkungen auf die Unternehmenskommunikation.

Enterprise 2.0 in einem Versicherungskonzern. Das hört sich an wie der Sprung ins kalte Wasser.

Naja, so ganz unbeleckt waren wir bei dem Thema nicht. Wir haben durchaus eine zaghafte Vergangenheit mit Social Media. So datiert die erste unternehmensweite Wiki-Installation auf das Jahr 2009. Das lief in einer Testphase, die eigentlich schon Produktivphase war, bis Anfang 2011. Seitdem floriert unser Wiki. Mittlerweile haben wir knapp die Hälfte der rund 30.000 Mitarbeiter in Deutschland an Bord. Und das Schönste ist: Von Januar bis August diesen Jahres ist der Content, also die Zahl der Wiki-Pages, um 25 Prozent gewachsen.

Aber ein Wiki ist keine Dialogplattform. Wie kam es jetzt zum Projekt Allianz-Social-Network (ASN)?

Uns war eine spontane Aktion unserer IT behilflich. Im Frühjahr 2011 hatte die nämlich einen Yammer-Account organisiert (Anm. d. Red.: ein soziales Netzwerk zur unternehmensinternen Zusammenarbeit), der ursprünglich nur dafür gedacht war, eine Führungskräfteveranstaltung zu unterstützen. Yammer hat sich dann jedoch schnell verbreitet, innerhalb von zweieinhalb Monaten hatten wir rund 3.000 User auf dieser Plattform. Nicht nur Führungskräfte, sondern quer durch die Gemeinde, ein durchaus repräsentativer Querschnitt unseres Unternehmens. Allerdings mussten wir schließlich die Notbremse ziehen, weil wir nicht wollten, dass die Leute in einem Cloud-Service zum Teil sensible Allianz-Daten austauschen.

Hat das nicht für Unmut gesorgt?

Nein, die Reaktion war sehr verständnisvoll. Es war schon vorher erkennbar, dass die Teilnehmer kein so gutes Gefühl dabei hatten, sich außerhalb der Unternehmensinfrastruktur in einem Cloud-Service zu bewegen. Vor allem aus der IT- und Security-Ecke und auch aus dem Bereich Controlling kamen Bedenken. In sofern wurde die Abschaltung nicht als Intervention von außen empfunden. Zu mal wir darauf verweisen konnten, dass bald für Ersatz gesorgt sein würde. Und am 2. Februar 2012 waren wir dann ja auch mit dem Piloten des Allianz-Social-Network (ASN) auf dem Sender.

Der spontane Yammer-Account war also die Vorstudie für Sie?

Es war tatsächlich ein tolles Testfeld, das wir noch dazu frei Haus geliefert bekommen haben, in einer sehr freien Gestaltung. Wir haben das Ganze gründlich ausgewertet und analysiert. Auf dieser Basis haben wir die Management-Entscheidung bekommen, dass wir ein ähnliches Tool für unseren speziellen Bedarf suchen sollen. Es wäre vermutlich auch ohne den Yammer-Account zu unserem Projekt ASN gekommen. Allerdings wäre es viel schwieriger gewesen. Da hätte man aus der Historie heraus argumentieren müssen, hätte zeigen müssen, wie erfolgreich Wiki läuft, welche 2.0-Aspekte da einfach fehlen und dass man versuchen sollte, sich ein entsprechendes System zumindest mal anzusehen. So hatten wir die Argumente bereits in der Hand und brauchten die eigentlich nur zeigen.

Welche Argumente waren das?

Das, was im Yammer-Account gemacht wurde, war sehr arbeitsorientiert. Die Befürchtung, dass die Leute dort hauptsächlich Socializing betreiben, hat sich überhaupt nicht bestätigt. Es wurde vor allem zur Sache gesprochen und es ging um Fachthemen. Zudem sind viele Leute auf den Geschmack gekommen, Social Media zu nutzen. Insbesondere auch leitende Angestellte der mittleren Führungsebene, die immer eine Schlüsselposition haben, wenn es um die Einführung von sozialen Medien geht. Die konnten mit Yammer quasi in die Technologie reinschnuppern und haben erkannt: „Das ist also doch kein Teufelszeug, sondern bringt einige Vorteile.“ Zum Beispiel den, auf eine Art und Weise mit seinen Kollegen in Kontakt treten kann, die nicht unbedingt nur hierarchisch geleitet ist und Raum für neue Perspektiven und Zusammenhänge eröffnet. Das muss man erkennen, annehmen und erlauben. Dafür war Yammer ein wichtiger Türöffner.

Und jetzt ist ASN am Start?

Die Pilotierung ist abgeschlossen und wir arbeiten an der Auswertung und am Konzept für den unternehmensweiten Rollout. Was wir gerade konkret vorbereiten, ist die Initiierung großer Communities in der IT und der Betriebsorganisation, aber auch im Personalbereich. Weitere Unternehmensbereiche folgen dann, zum Beispiel im Versicherungsbetrieb , um zu sehen, wie wir auch in einer sehr industrialisierten Arbeitswelt mit Enterprise 2.0 Erfolge erzielen können.

Was bietet ASN den Nutzern denn alles?

ASN basiert auf der Technologie von Jive und ist so konstruiert, dass Sie zunächst eine sehr einfache Microblogging-Funktion im Fokus haben, wie Sie es von Twitter kennen: Ein Eingabefeld für Status-Updates auf der Startseite. „Working out loud“ ist hier das Stichwort. Darüber hinaus steht Ihnen aber eine Vielzahl von weiteren Funktionen zur Verfügung: Sie können Blogs schreiben, Files hochladen, gemeinsam mit anderen an Dokumente arbeiten, Fragen stellen und Antworten einholen. Auf diese Funktionen können Sie in den Social Groups zugreifen, die Sie selber gründen oder denen Sie beitreten.

Sind die Nutzer mit dieser Fülle an Möglichkeiten nicht überfordert?

Das könnte passieren. Deshalb sorgen wir dafür, dass nur die Funktionen in einer Social Group freigeschaltet sind, die dort auch wirklich gebraucht werden. Und wir legen großen Wert darauf, dass alle Mitglieder einer Community bestens geschult und gecoacht an den Start gehen. Das bedeutet zwar einen erhöhten Anspruch an den Initialisierungsprozess. Doch wir haben in der Pilotierung gesehen: Da, wo das nicht sorgfältig gemacht wird, wird es schnell zum Problem, weil die Leute nicht wissen, was sie eigentlich wofür nutzen können. Diese Orientierungslosigkeit kann dann schnell zu einer Verweigerung führen.

Sie sprechen von einzelnen Communities und Gruppen. Klingt irgendwie nicht nach grenzenlosem Austausch.

Natürlich geht es grundsätzlich um Menschen, die sich mit anderen vernetzen. Darüber hinaus organisieren sich diese Menschen aber auch in Projektgruppen, Teams oder nach Themenschwerpunkten und das geschieht in den Social Groups. Die funktionieren im ASN wie Kristallisationspunkte, die die Menschen zusammenbringen, sie bieten Orientierung, können aber auch Heimathafen für Communities funktionieren, wenn Sie so wollen.

Also erfolgt der Austausch aus diesen Heimathäfen über das gesamte ASN hinweg?

Genau. Und zwar ohne Begrenzungen. Allerdings ist es wichtig, dass die Kollegen sich bewusst entscheiden, ob sie eine offene oder eine geschlossene Gruppe haben wollen. Beides ist möglich. Es gibt nun mal Arbeitsprozesse mit sehr vertraulichem Inhalt, da ist eine geschlossene Gruppe eine schlichte Notwendigkeit. Die wollen wir deshalb auch zulassen, Die Mitgliedschaft in diesen geschlossenen Gruppen kann von jedem Interessenten beim Gruppenadmin beantragt werden.

Gab es Vorbilder, die für Sie maßgeblich waren?

Natürlich haben wir uns verschiedene Projekte angeschaut. Seit anderthalb Jahren werden wir zudem von der Forschungsgruppe Kooperationssysteme von der Uni der Bundeswehr in München unterstützt. Die haben viel Forschung betrieben und uns wertvolle Einblicke verschafft. Aber man muss sagen: Unsere Unternehmens- und Arbeitskulturen hier sind sehr speziell. Daher sind die Erfahrungen aus Social Media-Aktivitäten anderer Unternehmen nicht einfach übertragbar. Es lohnt sich doch im Zeifelsfall spezifische Lösungen zu entwickeln, die exakt zu unserem Unternehmen passen.

Sie selbst kommen aus der Unternehmenskommunikation. Was ändert sich durch Enterprise 2.0 denn bei Ihnen?

Zunächst mal, dass ich dieses Projekt leiten darf (lacht). Ernsthaft: Die Kommunikation wird dialogischer. Das bedeutet, dass wir unsere Botschaften in Zukunft so aufbereiten müssen, dass sie in diesem Dialog auch wirklich bestehen und bei der Zielgruppe ankommen. Das können dann eben keine Verlautbarungen mehr sein, sondern Inhalte, die zum Austausch anregen. Nur so werden wir noch Aufmerksamkeit beanspruchen können, denn irgendwann wird der Strom der Posts das sein, was für die Nutzer zählt. Die Leute werden nicht mehr auf die Startseiten eines Intranets gehen und die dortigen Meldungen lesen. Sie werden nur das lesen, was sie wollen. Und zwar ausschließlich das, was sie wollen. Ob jemand eine Quelle abonniert oder nicht, das zeigt Ihnen, ob Sie mit Ihren Inhalten bei einer Zielgruppe ankommen oder nicht. Also muss die Unternehmenskommunikation solche Inhalte liefern. Im Gegenzug habe ich die Gewissheit, dass ich Leute auch wirklich erreiche, bekomme unmittelbares Feedback und Bereicherung meiner Themen.

Sie sehen die Entwicklung also sehr positiv.

Mich wundert ein bisschen, dass in der Unternehmenskommunikation grundsätzlich die Erkenntnis nur langsam aufkommt, dass das Thema Enterprise 2.0 ein wichtiges ist. Da wäre eigentlich eine viel intensivere Resonanz zu erwarten. In der IT beispielsweise sind die Leute schnell begeistert, weil sie die Technik fasziniert. Dabei ist Enterprise 2.0 vor allem ein inhaltliches und kulturelles Thema. Also ein ureigenes der Kommunikation. Wer die Chancen, die damit verbunden sind, nicht erkennt, ist schlichtweg blind.

Teaserbild: Photo by freestocks.org on Unsplash

Über die Person

Michael Wegscheider, Projektleiter Enterprise 2.0 @ Allianz, Unternehmenskommunikation, Allianz Deutschland AG. Geboren 1964, Studium der Germanistik. Beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Online Medien in der Unternehmenskommunikation. Während lange der Schwerpunkt auf Konzeption und Redaktion von Mitarbeiterportalen lag, hat sich sein Aufgabengebiet in den letzten Jahren auf dialogische Methoden wie Wikis und Blogs erweitert. Zur Zeit koordiniert er als Projektleiter die Einführung eines sozialen Netzwerks.

Über den Autor

Robert Döing

Sprint, Scrum oder Design Thinking - wo andere nur Bahnhof verstehen, ist Robert in seinem Element. Voller Leidenschaft für Digitales, probiert er gerne jede IT-Neuerungen aus. Positiver Nebeneffekt für die Kollegen: Wenn der Drucker streikt und das Internet Verstecken spielt, kennt Robert bestimmt einen Trick, um alles wieder ans Laufen zu kriegen.

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