Fachbeitrag
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„Wir müssen verstehen, wie normal psychische Probleme sind.“

Jedes Jahr erkranken in Deutschland rund 28 Prozent der Erwachsenen an einer psychischen Krankheit. Doch im Job redet niemand darüber. Philipp Himstedt, Psychologe bei der gemeinnützigen Initiative »MHFA-Ersthelfer«, weiß, wie sich das ändern lässt und was man tun kann, wenn jemand im Kollegenkreis betroffen ist.
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2022

„Wir müssen verstehen, wie normal psychische Probleme sind.“

Jedes Jahr erkranken in Deutschland rund 28 Prozent der Erwachsenen an einer psychischen Krankheit. Doch im Job redet niemand darüber. Philipp Himstedt, Psychologe bei der gemeinnützigen Initiative »MHFA-Ersthelfer«, weiß, wie sich das ändern lässt und was man tun kann, wenn jemand im Kollegenkreis betroffen ist.
„Wir müssen verstehen, wie normal psychische Probleme sind.“

Sie bieten Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit an – was ist das?
Mehr als jede vierte Person in Deutschland ist im Laufe eines Jahres von einem psychischen Gesundheitsproblem betroffen. Die Wahrscheinlichkeit ist also sehr hoch, dass wir alle eine Betroffene oder einen Betroffenen an unserem Arbeitsplatz oder sonst im nahen Umfeld haben.

Kolleg:innen, Vorgesetzte, Verwandte oder Freund:innen wollen häufig helfen, wissen aber nicht wie. Und genau dieses Wissen vermitteln wir im Kurs. Wie erkenne ich ein psychisches Gesundheitsproblem? Wie spreche ich die betroffene Person adäquat an? Wie kann ich sie in professionelle Hilfe weitervermitteln?

Woran erkennt man im Büro, ob ein Kollege oder eine Kollegin unter psychischen Problemen leidet, also was können Anzeichen sein?
Mit unseren Kolleg:innen teilen wir viel Zeit. Wir haben häufig ein gutes Gespür dafür, wenn sich Menschen in unserem nahen Umfeld verändern. Und genau auf diese Veränderungen sollten wir achten. Am augenscheinlichsten kann dies vermutlich am Arbeitsverhalten werden: wenn die betroffene Person nicht mehr die gewohnte Leistung abrufen kann, vermehrt Überstunden braucht, häufiger Fehler macht oder sich schlechter konzentrieren kann.

Auch soziale Aspekte lassen uns häufig merken, dass es einer Person nicht gut geht. Wenn sie sich beispielsweise zurückzieht und immer seltener an der gemeinsamen Mittagspause teilnimmt. Häufig geht das mit Veränderungen in der Stimmung einher: Die Person ist freudloser, lacht weniger. Aber auch körperliche Anzeichen wie verminderte Energie und ständige Müdigkeit haben ihre Ursache oft in psychischen Leiden.

Wenn man die Vermutung hat, dass jemand aus dem Kollegenkreis psychische Probleme hat, wie reagiert man dann am besten als Kolleg:in, beziehungsweise als Vorgesetzte:r?
Stellen Sie sich eine Situation vor, in der einer Kollegin körperliches Leid erfährt. Beispielsweise rutscht sie auf der Treppe aus, fällt hin und hat Schmerzen. Vermutlich würden Sie auf die Person zugehen, sie ansprechen und Unterstützung und Hilfe anbieten. Ähnliches gilt auch für ein psychisches Gesundheitsproblem. Lassen Sie die Dinge nicht einfach geschehen!

Als Vorgesetzte:r spielen – leider – hierarchische Prozesse noch eine zusätzliche Rolle. Gleichzeitig gibt es mehr Spielraum und Entscheidungskompetenzen, wie die Arbeit beispielsweise möglichst stressfrei gestaltet werden kann und welche Fürsorgemöglichkeiten innerhalb des Unternehmens miteinbezogen werden können.

Zusätzlich kann die eigene Führung so angepasst werden, dass Stress reduziert wird. Und lassen Sie ihre betroffenen Mitarbeitenden nicht allein! Begleiten Sie den Prozess durch regelmäßige Gespräche, um Arbeitsbelastungen und Veränderungen zu beobachten.

Wie kann man betroffene Kolleg:innen im weiteren Verlauf ihrer Erkrankung unterstützen?
Eine wertschätzende, vorurteilsfreie Kommunikation ist für jede Hilfe die Basis. Um die betroffenen Kolleg:innen im Arbeitsumfeld zu unterstützen, kann man konkret nachfragen. Welche Unterstützung benötigt die Person, um ihre Anforderungen erfüllen zu können? Wie kann man die gemeinsamen Rollen und Aufgaben aufeinander abstimmen?

Dabei geht es nicht darum, der Person alles abzunehmen. Sinnvoller kann es hingegen sein, sich über interne Programme für psychische Gesundheit zu informieren und das Wissen an die Kolleg:in weiterzugeben.

Gibt es bei der Reaktion Fehler, die man machen kann oder die häufig gemacht werden?
Die wichtigste Botschaft gleich vorab: Es ist immer besser etwas zu tun, als nichts zu tun!
Trotzdem sollten wir vermeiden, die Person nicht ernst zu nehmen, die Symptome zu bagatellisieren oder der Person zu drohen.

Was hilft: auf das Wohlbefinden der Kolleg:innen achten, sensibel für Veränderungen sein, vorurteilsfrei und wertschätzend kommunizieren, den Betroffenen auf Augenhöhe begegnen, sich über funktionierende Erste Hilfe-Strategien für psychische Gesundheitsprobleme informieren, Hilfsmöglichkeiten kennen. Wenn wir uns daran orientieren, werden wir kaum etwas „falsch“ machen.

In einer von LinkedIn beauftragten Umfrage kam kürzlich heraus, dass lediglich 34 Prozent aller Befragten ein offenes Gespräch über psychische Erkrankungen mit ihren Kolleg:innen führen. Warum denken Sie, ist mentale Gesundheit immer noch so ein großes Tabuthema in Unternehmen?
Wir müssen es schaffen, zu verstehen, wie normal und menschlich psychische Gesundheitsprobleme sind. Über Jahrzehnte und Jahrhunderte gewachsene gesellschaftliche Stigmatisierungen von Schwäche und Verrücktheit – so absurd sie auch sind – verschwinden nicht in wenigen Jahren.

Die Richtung der Entwicklung stimmt jedoch und wir versuchen unseren Teil dazu beizutragen. Unsere Kurse werden laufend wissenschaftlich evaluiert und so wissen wir, dass sie, neben anderen Effekten, auch das Stigma gegenüber psychischen Störungen und den Betroffenen reduzieren.

Was können Unternehmen allgemein tun? Wie können sie vielleicht sogar vermeiden, dass Mitarbeitende überhaupt solche Probleme entwickeln?
Prävention und Frühintervention sind die entscheidenden Stichworte. Viele Unternehmen bilden Mitarbeitende zu Ersthelfenden für psychische Gesundheit aus. Es gibt auch die Möglichkeit, dass Mitarbeitende des Unternehmens zu MHFA Ersthelfer-Instruktor:innen ausgebildet werden und so das notwendige Wissen in ihr Unternehmen tragen und selbst die Kolleg:innen ausbilden.

Welche Rolle können Kommunikationsabteilungen spielen?
Eine vorurteilsfreie Kommunikation hat Einfluss darauf, wie leicht sich Betroffene öffnen und an Kolleg:innen wenden können. Gleichzeitig ist es in einer Unternehmenskultur, in der ein psychisches Gesundheitsproblem nicht als Schwäche ausgelegt wird, deutlich einfacher, angebotene Hilfe auch anzunehmen.

Die Kommunikationsabteilungen prägen diese unternehmensinternen Einstellungen am sichtbarsten und sollten sich über das Wie und Was in der Kommunikation besonders bewusst sein.

Wie ist die Nachfrage nach Ihren Kursen?
Wir erleben, dass die Bedeutung und auch die Chancen dieses wichtigen Themas immer mehr erkannt werden – vor allem in betrieblichen Strukturen. Die Nachfrage ist entsprechend hoch und nimmt immer mehr zu. Kürzlich haben wir unseren 10.000 MHFA-Ersthelfer ausgebildet. Ein kleiner Meilenstein, der uns wirklich freut!

„MHFA“ steht für Mental Health First Aid. Das deutschlandweite Kursangebot der gemeinnützigen Initiative MHFA-Ersthelfer soll Laien befähigen, Erste Hilfe für psychische Gesundheit zu leisten. Weitere Informationen gibt es hier.

Foto: kelly-sikkema/unsplash

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