Du bist in der Regel als Reportage-Fotograf unterwegs. Wie erzählt man mit Fotos Geschichten?
Bei meinen freien Projekten lasse ich mir gerne viel Zeit und versuche, zurückhaltend ein Teil des Geschehens zu werden. Je weniger Aufmerksamkeit ich auf mich ziehe, umso unverfälschter kann ich das Leben, das sich vor mir abspielt, festhalten.
Auf der Bildebene beginne ich mit dem Sammeln von allem, was mir interessant für die Geschichte erscheint: gute Momente, Stimmungen, Emotionen, Übersichten, Porträts, Details, die nicht allzu erklärend sind, sondern eher auf einer atmosphärischen Ebene erzählen. Die eigentliche Geschichte entsteht dann meist erst im Editing aus einer Vielzahl von Bildern, die ich Schritt für Schritt auf eine Essenz reduziere.
Bei Auftragsarbeiten, die oft in kurzer Zeit entstehen (zum Beispiel an einem halben Tag anstelle von drei Jahren bei einem freien Thema), muss ich viel systematischer vorgehen, nach einer mentalen Liste die wesentlichen Punkte des Themas einfangen und schneller mit Menschen in Kontakt treten.
Neben den beschreibenden Bildern – wer, was, wie, wo – ist für mich die aufrichtige Nähe zu den Menschen, ein Vertrauen das man in den Bildern spürt, die wichtigste Komponente, die eine gute Geschichte ausmacht.
Deine Reportagen greifen häufig soziale Themen auf. Warum gerade diese Themenwelt?
Den größten Sinn meiner Fotografie sehe ich darin, Aufmerksamkeit für Themen und Menschen zu schaffen, die nicht im Rampenlicht stehen, diese Aufmerksamkeit aber verdienen. Mein Ziel: Betrachter für wichtige Themen sensibilisieren und im besten Fall einen positiven, gesellschaftlichen Beitrag leisten.
Reportagefotografie lebt davon, den richtigen Moment mit der Kamera einzufangen. Wie gehst du dabei vor?
Anstatt suchend herumzulaufen, funktioniert es für mich oft besser, mich in kleinere räumliche Situationen zu begeben und einfach abzuwarten. Wenn es gelingt, dass die Personen sich weiterhin natürlich verhalten, die Szenerie interessant und im Idealfall das Licht auch noch toll ist, können unvorhersehbar schöne Konstellationen und Momente entstehen.
Viele deiner Bilder zeigen Alltagsszenen. Was macht den Alltag als Szenerie für Fotografie so spannend?
Dokumentarfilme und Singer-Songwriter, die von Alltagsgeschichten erzählen, fand ich schon immer sehr faszinierend. Das Fotografieren eines kleinen Kosmos, in dem sich, wenn man genau hinschaut, das ganze Leben und Menschsein abbilden kann, finde ich sehr spannend und macht mir große Freude.
Über dein Projekt „Franz & Otto“ – zwei Zwillinge im Rentenalter, die ihr ganzes Leben gemeinsam in ihrem Elternhaus verbracht haben – schrieb eine Journalistin kürzlich, dass dir etwas Seltenes gelingt: das Gefühl der Liebe in Bildern einzufangen. Wie ist dir das gelungen – in diesem, aber auch in anderen Projekten?
Alle paar Jahre begegne ich Menschen oder Themen, die mich wirklich tief berühren. Diese Begegnungen sind sehr selten und so intensiv, dass sie mich nicht mehr loslassen und oft ein freies Fotoprojekt daraus entsteht.
Wenn dann beim Fotografieren eine Resonanz zwischen den Personen und mir entsteht und ich mich sehr weit öffne, kann wirklich Liebe mitschwingen, die dann wohl irgendwie in die Bilder einfließt.
Bei Franz und Otto war das so. Dazu kam, dass ich mich wie in einer Zeitreise in die exakt gleich eingerichtete Wohnung meiner Oma zurückversetzt fühlte und bei mir viel Biographisches mitschwang.
Bei deinen Projekten dringst du teils tief ins Privatleben der Menschen ein, die du fotografierst. Wie fühlt sich das für dich als Fotograf an? War das anfangs unangenehm? Musstest du das erst lernen?
Diese Nähe muss ich für mich jedes Mal mit guten Gründen und einem höheren Ziel rechtfertigen. Die Geschichte muss für mich einen gesellschaftlichen Mehrwert haben, andere Menschen informieren, aufklären, ihnen in ihrer eigenen Situation helfen. Eine Bedingung für diese nahen Erzählungen ist das Einverständnis der Menschen und ein gegenseitiges Vertrauen, das ich mir oft über längere Zeit erarbeiten muss.
Da ich schon viele Projekte zu sozialen Themen fotografiert habe, ist mittlerweile ein gewisser Vertrauensvorschuss da. Wenn ich zu Anfang eines Projektes meine vorherigen Arbeiten zeige, wird sichtbar, dass ich mit guten Absichten komme und Menschen in ihrer Situation würdevoll fotografiere.
Was bedeutet für dich Kreativität?
Machen. Fine Faszination für ein Thema zu spüren und einfach anzufangen, tief und demütig hineinzugehen – meist mit nur einer ungefähren Idee. Dranbleiben, auch wenn es schwer oder langweilig wird. Weitermachen, sich immer wieder vom Erlebten, vom Thema überraschen und leiten lassen. Zu zweifeln, aber nicht aufzugeben und irgendwann zu spüren, wenn es rund ist und an der Zeit, eine Form für das Erlebte und Fotografierte zu finden.
Was hat dich zuletzt inspiriert? Und warum?
Wim Wenders im Podcast Hotel Matze. Er erzählt so wunderbar von seiner Arbeitsweise und seinen kreativen Prozessen – sehr interessant und sympathisch.
Und dann noch das Buch KAPITÄNE, Interviews von Stefan Kruecken mit Erzählungen von Seeleuten und ihren Abenteuern, von Mut, Hoffnung und Gelassenheit im Angesicht heftiger Situationen auf hoher See.
Mehr Informationen zu Andreas Reeg und seine Kontaktdaten gibt's unter https://www.andreasreeg.com.