Viele Szenenwechsel, viele Schnitte. Das Video ist bunt, laut und schnell. Der Content Creator spricht direkt in die Kamera, ohne Punkt und Komma, in einem Tempo, dass man meint, man hätte das Video vielleicht aus Versehen auf doppelte Geschwindigkeit gestellt. Das ist die typische YouTube-Ästhetik. Aber YouTube kann auch anders: leise und unaufgeregt. Silent Vlogs nennt sich das Konzept.
Was sind „Silent Vlogs“?
In Silent Vlogs geht es darum, die kleinen Dinge des Lebens zu zelebrieren. Schönheit in den einfachen Dingen zu finden. Es ist YouTube für Introvertierte und Ästhet:innen. Einige der beliebtesten Silent Vlogs kommen von der japanischen YouTuberin Choki. Ihre Videos heißen „Kleine Gewohnheiten, die das Herz heilen“, „Ein freier Tag, um ein gebrochenes Herz aufzuheitern“ oder einfach nur „Urlaub zu Hause an einem heißen Tag“.
Millionen von Menschen sehen der jungen Frau regelmäßig dabei zu, wie sie Tee aufbrüht, Kerzen anzündet, Suppe kocht, ihre Blumen gießt oder ihre Katzen streichelt. In anderen Silent Vlogs wird Tagebuch geschrieben, gebacken, in Büchern geblättert oder die Wohnung dekoriert. Alles in HD und mit einer fast schon cineastischen Ästhetik, untermalt von ruhiger Instrumentalmusik. Die Stimme der Vlogger hört man nie. Ebenso wenig sieht man ihr Gesicht. Nur ein paar poetische Untertitel erklären, was passiert.
Relikt der Corona-Pandemie: Woher kommt der Trend zu Silent Vlogs?
Es ist wenig überraschend, dass der Trend zum „silent vlogging“ in der Corona-Zeit entstanden ist. Plötzlich hatte sich das Tempo unseres Alltagslebens durch die Pandemie drastisch reduziert. Der notwendige Rückzug ins Häusliche führte dazu, dass viele Menschen einfache Hobbies wie Lesen, Kochen, Backen, Hand- und Gartenarbeit wiederentdeckten.
Doch während mit der Impfung das gesellschaftliche Leben wieder an Tempo aufnahm, blieb für Viele eine gewisse Sehnsucht nach der Ruhe und Einfachheit der Pandemiezeit. Nach dem sogenannten „slow living“. Also blieben auch die Silent Vlogs.
Warum funktionieren Silent Vlogs?
Der Reiz dieser Videos erklärt sich schnell, wenn man ein paar von ihnen schaut. Keine Informationsberge, die man verarbeiten muss. Keine Reize, die einen überfluten. Keine Aufrufe zur Selbstoptimierung oder zur Produktivität. Dieser Content will nicht zwanghaft informieren, unterhalten oder überraschen.
Es ist Content, der nichts fordert, sondern die Konsument:innen in eine Art gemütliche Wohlfühl-Trance wiegt. Man hört das Rascheln der Buchseiten beim Umblättern, sieht den Dampf aus dem Teekessel steigen und fühlt sich auf überraschende Weise sehr zufrieden damit, absolut nichts passieren zu sehen. So treffen die Silent Vlogs einen Nerv unserer Zeit.
Gleichzeitig bedienen sich die Silent Vlogs auch einem neurologischen Phänomen: der ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response). Sie beschreibt die Wahrnehmung eines kribbelnden, als angenehm empfundenen Gefühls auf der Haut, das durch bestimmte visuelle, auditive oder taktile Reize ausgelöst wird. In Silent Vlogs häufig auftauchende Geräusche wie beispielsweise das Schnurren von Katzen oder das Prasseln von Regentropfen an Fensterglas können solche auditiven oder visuellen Reize sein.
Wie können Unternehmenskommunikation und Marketing Silent Vlogs nutzen?
Unternehmen haben sich den Trend tatsächlich noch wenig zu Nutze gemacht. Weder gibt es bekannte Marken, die selbst Videos im Stil von Silent Vlogs veröffentlichen, noch sind Silent Vlogger:innen bisher signifikant im Blick von Influencer-Marketing gelandet. Eine unterschätzte Chance.
Besonders Marken, die Produkte rund ums Thema Wohnen und Selfcare vertreiben, können sich hier austoben. Vom Küchengerät über Zimmerpflanzen bis zur Yogamatte können in Silent Vlogs Produkte ästhetisch in Szene gesetzt und „in Action“ gezeigt werden, ohne sie zu aufdringlich zu bewerben.
Allerdings sollte man sich als Unternehmen bewusst sein: Silent Vlogs leben von ihrem hochwertigen Look. Was so einfach aussieht, erfordert in seiner Umsetzung viel Know-How und Können in Sachen Videoproduktion – vom professionellen Lichteinsatz bis zur Postproduktion. Mal eben draufzuhalten, reicht hier nicht. Trotzdem sind Silent Vlogs für Kommunikator:innen und Marketeers ein spannendes Feld zum Experimentieren – oder aber zumindest ein guter Weg, um nach einem stressigen Arbeitstag mal ein paar Minuten zu entspannen.